Reisen mit einem schläfrigen Coy - "Eine autobiographische Roadstory für Banausen und Intellektuelle"
Die Mädels setzten sich uns gegenüber hin, und lächelten uns an.
- Was für ein Zufall, dass wir uns noch getroffen haben!, sagte Éva auf Deutsch. Ich war auf dem Weg ins Kino: A veréb is madár auf Deutsch Der Spatz ist auch ein Vogel, diese ungarische Komödie, eine Persiflage auf die Ostblockländer.
Und dann überlegte auch ich mir einen angemessenen Einstieg.
- Heißer Tag heute, muss ich wohl zu Kati gesagt haben oder so etwas in der Art, aber sie schüttelte ihren Kopf, weil sie außer Ungarisch nichts verstand, auch kein Russisch. Das hatte sie zwar acht Jahre im Gymnasium gelernt, aber gleich wieder vergessen. Verständlich, wenn man nur Die Reisen des Genossen Lenin durch die Schweiz gelesen und Gogol und Dostojewski übergangen hat.
- And what about English?, fragte ich Kati aufs Geratewohl.
- English, yes a little bit, sie nickte. Damit hatte sie gerade vor einigen Wochen bei einer Privatlehrerin angefangen.
Immerhin etwas, dachte ich mir, reicht zwar noch nicht ganz für James Joyce, aber für Micky Mouse könnte es gehen.
Später machten wir eine Donaufahrt nach Szentendre, zu 2 wohlgemerkt, und als es dunkel wurde, gingen wir ins Freilichttheater auf der Margaretheninsel zu einer Opernauf- führung.
Es war ein stimmungsvoller, romantischer Abend mit einem bleichen Mond hinter den Akazien und einer noch bleicheren Cho-Cho-San/Madame Butterfly auf den Brettern, die ein Wiegenlied für ihr Kind sang. Und wie sie gerade bei dem hohen F angekommen ist, hört man von Kati einen fürchterlichen, alles durchdringenden Schrei, so laut, dass die Musik auf der Bühne erstirbt und Butterfly mit offenem Mund stehenbleibt.
Alles dreht sich um zu der Missetäterin, aber die schreit weiter und deutet entsetzt auf das Sakko eines Mannes in der Sitzreihe vor ihr, wo sich eine winzige gelb-grüne Raupe aufgerichtet hat und neugierig ihre Umwelt beäugt.
Eine Raupenphobie, schoss es mir durch den Kopf, und so habe ich mich vorgebeugt, das Tierchen mit dem Finger hinunter geschnippt und die Situation gerettet. Kati hätte sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen und hat immer wieder bocsánat! gerufen. Schließlich konnte Cho-Cho-San weitermachen mit ihrem Wiegenlied. Ob ihr Kind am Ende eingeschlafen ist – ich glaube es nicht.
Ein ähnliches Erlebnis tags drauf im Freilichtkino, wo sie den Kultfilm Das Piano zeigten. Vor uns auf der Bank ein bekannter ungarischer Schwergewichtsboxer mit seiner Freundin, der sich trotz zaghafter Pscht-Rufe aus dem Publikum nicht von blöden Bemerkungen und lauten Kommentaren abhalten ließ. Doch plötzlich lag er regungslos am Boden, und seine Freundin begann laut zu kreischen und nach einem Arzt zu rufen.
Was war geschehen? Keine Raupe, nein, aber es gibt in dem Film eine Szene, wo der betrogene Ehemann seiner ungetreuen Gattin vor Eifersucht den rechten Zeigefinger abhackt. Bei diesem Anblick ist unser Boxer ohnmächtig auf die Bretter gegangen, ganz ohne Punch.
Gott sei Dank war auch sogleich eine Ärztin da und hat ihn mit einer Flasche kalten Wassers wiedererweckt. Und der Kerl hat fortan ziemlich kleinlaut und in sich zusammengesunken dagesessen und sich geschämt wie ein Bettnässer, das werde ich nie vergessen.
Irgendwann, die Polen hatten damit angefangen, ging es auch in Ungarn los: Vorsichtige Liberalisierung und Entspannung, will sagen: Kein Knast mehr für Hörer von Free Europe und Leser der BILD oder Kronen Zeitung. So konnten wir von nun an ohne Angst Jahr für Jahr nach Budapest fahren und dank unseres Westgeldes unbeschwert mitessen vom Topf des Gulasch- kommunismus.
Im Herbst 89 dann in den Nachrichten die Sensation: Die ungarische Regierung hatte die Grenze nach Österreich geöffnet und ließ jeden ausreisen, der wollte. Und es waren viele, sehr viele. Vor dem Schlagbaum stauten sich eine Unmenge Wolga-, Lada- und Trabant-Autos, während die Bauern am Straßenrand Maiskolben, Paprika, Gurken, Trauben verkauften.
Auch jede Menge kleine Flittchen vom Strich hatten sich eingefunden (sogar aus der Váci utca in Pest waren sie gekommen), verhandelten mit genervten Autofahrern und verschwanden dann mit ihren Kunden in den Maisfeldern.
- Sollten sie doch, wenn‘s der Völkerverständigung diente, dachte ich.
Doch nicht so die ungarische Polizei. Mit ihren weiß-blauen Autos fuhr sie herum und versuchte zu verhindern, was verboten war, insbesondere das Abkassieren durch die Zuhälter.
Aber ohne Erfolg, denn ungarische Strizzis sind clever. Immer wenn es ans Bezahlen ging, erschienen sie plötzlich hoch zu Ross auf den Feldern, kassierten bei ihren Damen und waren im Nullkommanichts im Gebüsch verschwunden.
Hatte ich „hoch zu Ross“ gesagt?
In der Tat, das war meine Rede, „hoch zu Ross, fönt, a lóháton.“ Und jetzt hatte ich den Beweis, schlüssig und unwiderlegbar: Die Ungarn sind ein Reitervolk, und daran wird sich auch so schnell nichts ändern.
Reisen mit einem schläfrigen Coy - "Eine autobiographische Roadstory für Banausen und Intellektuelle"
Es war ein kalter, nebliger Tag auf der Schotterpiste durch die Yungas. Vor uns fuhr ein Pick-up mit Quetchua-Indios, eng aneinander gedrängt auf der Ladefläche, und hinter uns ein Kleinbus, der vergeblich versuchte zu überholen.Hinter der ersten Kurve ein Wasserfall, der sich auf die Straße ergoss. Wie auf Kommando zogen die Indios eine Zeltplane über den Kopf. Kaum zu glauben, dass sie trocken durchgekommen waren bei der Menge Wasser. Versuchen Sie mal, mit einer Zeltplane über dem Kopf trocken durch den Niagara zu kommen!
Und dann kam die Stelle, die mich noch heute in nächtliche Panikattacken treibt. Die Piste wurde schmal wie …, wie eine Buchseite, würde ich sagen, und die können zuweilen ganz schön schmal sein, wenn ich an meine Bibel denke.
Was tun? Den Fels wegsprengen vor dem Weiterfahren oder zweirädrig fahren: zwei Räder rechts auf dem Weg und zwei links in der Luft über dem Abgrund?
Offenbar stand der Pick-up vor derselben Frage. Der Beifahrer, ein fetter Quechua, war mit einem Stab in der Hand vorausgegangen, maß Höhen, Breiten und Abstände und gab die Werte durch Handzeichen an den Fahrer weiter. Und irgendwie schafften sie es, die zwei, Zentimeter für Zentimeter, während die Indios hinten im Auto stoisch auf ihrer Bank saßen und ihre Plane abtrockneten.
- Was der Fahrer kann, können wir schon lange, sagte ich, und Bert meinte: - Profis …, gelernt ist gelernt.
Und wir schafften es auch, langsamer als die beiden vor uns, wir zählten hundert Kreuze an der Straße, und … wir stürzten nicht ab, das müssen Sie mir glauben, denn wie sonst würde ich jetzt hier sitzen und meine Geschichte tippen?
Ob aber auch der Busfahrer hinter uns durchgekommen ist, wer weiß? Vielleicht ist er abgestürzt am Camino de la Muerte und hat wie all die anderen da unten am Ufer des Rio Elena sein Leben ausgehaucht. Dann hätte er besser ein kleineres Auto genommen oder einen indianischen Straßenlotsen.
Reisen mit einem schläfrigen Coy - "Eine autobiographische Roadstory für Banausen und Intellektuelle"
Messina – eine großartige Stadt, wie die Prospekte sagten. Das musste in einem anderen Jahrtausend gewesen sein, in einem Jahr des ewigen Frühlings. Und die Braut von Messina, von der Schiller schreibt? Erfunden und gelogen! In Messina gibt es keine Bräute, und wenn doch, haben sie sich versteckt, weil Regen, Sturm und Kälte ihnen auf den Senkel gingen. Mir übrigens auch. Ich wanderte allein durch die Straßen, sah Tannenbäume in Schaufenstern und stellte fest, dass Heiligabend war, der vierundzwanzigste Dezember. Gern hätte ich gefeiert, in einem warmen Raum, mit rotem Wein, netten Leuten und vielleicht in einer sizilischen Jugendherberge, die all das versprach. Leere Versprechungen! Die Herberge war, wie der Aushang sagte, über die Weihnachtstage geschlossen, doch für Rückfragen gab es eine Adresse auf der anderen Straßenseite. Ich klingelte, ein kleiner Mann im Unterhemd öffnete, hob bedauernd die Hände und schüttelte den Kopf: - Clausurato l‘albergo! Dann aber hatte er den Einfall seines Lebens. Er griff in seine Tasche und gab mir den Schlüssel für das gesamte Etablissement: sechs Schlafräume, zwölf Duschen und zwei Dutzend weiche Wolldecken vom Besten. Drei davon habe ich genommen und in Morpheus‘ Armen gelegen und geträumt, während es draußen wie aus Kübeln goss. Kurz nach Mitternacht hat es an meiner Fensterscheibe geklopft, ganz laut und hartnäckig. Ich habe die Tür geöffnet und ein Mädchen gesehen, dem tropfte das Wasser aus dem langen blonden Haar.
Ich habe es hereingelassen, in mein Bett gelegt und in weiche Decken gehüllt, denn sie zitterte vor Kälte. Und plötzlich wusste ich, dass sie eine Prinzessin war, eine richtige Prinzessin aus dem Lande Dänemark. Den Trick mit der Erbse hätte ich gerne ausprobiert, einfach spaßeshalber, aber ich fand keine, so sehr ich auch suchte. Egal, denn dass sie eine richtige Prinzessin war, das wusste ich auch so. Als ich aufwachte, war sie verschwunden, aber nicht der Regen. Da beschloss ich, nach Wien zurückzureisen zu Börge und seinen Dänen, denn bei denen wusste man immer, woran man war.
Reisen mit einem schläfrigen Coy - "Eine autobiographische Roadstory für Banausen und Intellektuelle"
Mit meinem Rucksack ging ich zur Fähre und setzte über aufs Festland.
- Und Sizilien?
- Zum Teufel mit Sizilien!, sage ich. - Aber seien Sie beruhigt: Ich komme im Sommer wieder.
Es gab eine Autostraße nach Tarent, die nahm ich, denn ein Kellner auf dem Schiff hatte sie mir zum Trampen empfohlen und ihre Schönheit gepriesen. Er musste blind gewesen sein, der Typ, denn die Schönheit der Straße hatte sich hinter den Regenwolken Kalabriens verkrochen, die Autos waren selten und fuhren meist nur bis zum nächsten Kuhdorf.
Was machen, wenn nichts läuft? Einfach weiterklotzen, bergauf, bergab und manchmal den Daumen heben, das hilft immer – Hitchhiker-Weisheiten, Seite 7. Und so marschierte ich durch den Regen, und als ich sieben Täler durchwandert und sieben Berge erklommen hatte, konnte ich nicht mehr und blieb stehen, um nachzudenken: über den Sinn des Trampens im Allgemeinen und meine Erbsenprinzessin im Besonderen. In der Nähe war eine Kate, lieblos und schief in die Landschaft hingepflanzt, und davor ein altes Weib in langen Röcken und mit zwei stählernen Milchkannen neben sich.
- Gibt es hier einen Bus in die Stadt?, wollte ich wissen, - eine Imbissbude mit heißem Kaffee oder sowas in der Art?
Sie zuckte die Schultern und mir fiel ein, gelesen zu haben, dass die Leute hier in der Gegend nicht Italienisch, sondern Albanisch sprachen. Da hätte sie mir eigentlich einen türkischen Kaffee bringen können oder einen Maulbeerschnaps, doch das kam ihr nicht in den Sinn. Und übernachten in der Kate? Die war voll, vielleicht eine Bergeidechse hätte noch hineingepasst, eine, die noch nicht ausgewachsen war. Schließlich entdeckte ich unter dem Wellblechvordach einen Liegestuhl, aufgeklappt und auf bessere Zeiten wartend.
- Vielleicht könnte ich …, ich zeigte auf die Liege, wobei ich den Schläfer simulierte. Die Alte verstand, überlegte einige Zeit und dann nickte sie, was auf Albanisch wohl Zustimmung bedeutete. Und ich legte mich in den Liegestuhl und lauschte dem Regen, der auf das Blechdach prasselte.
Ob es ein guter Schlaf war?
Es war die schlimmste Nacht meines Lebens, entsetzlich und schauderhaft. Nass, durchgefroren und mit viel Wasser im Bauch schlief ich nicht eine Minute, sondern stand immer wieder unter dem Vordach und erleichterte mich wohl hundertmal. Und ich hätte ein Königreich für eine Wand gegeben, die graue in der Casa Bambú in Sevilla meine ich, die mit dem roten Pfeil und dem Loch darunter im Fußboden.
Am folgenden Morgen immer noch kalter Regen, aber ein Auto mit einem Italienisch sprechenden Fahrer, der nichts dabei fand, mich nach San Giovanni in Fiore mitzunehmen, in die kleine Stadt mit dem blumigen Namen und der netten Kneipe, wo es heißen Kaffee gab und guten Maulbeerschnaps. Aber auch essen konnte man in dem Laden: Spaghetti alla Mamma und Schokoladenmousse als Dessert.
- Und schlafen?, wollte ich von der Padrona wissen.
- Schlafen …, sie überlegte, ja ein Bett hätte sie noch, absolut ruhig und mit Blick auf den Hausgarten, aber nur für eine Nacht.
- Klar, sagte ich, - eine Nacht nur, denn morgen früh muss ich weiter nach Norden, Venedig, Rimini, wenn Sie verstehen.
Sie verstand nicht, da war sie noch nie gewesen, aber sie wusste, dass es einen Autobus Richtung Perugia gab, um acht Uhr früh.
Mein Schlafzimmer war dunkel und lag am Ende eines Ganges. Lange suchte ich nach einem Schalter, knipste und sah einen speckigen, langhaarigen Typ in dem linken Bett schlafen. So sagte ich Scusate und legte mich in das rechte.
Es wurde eine angenehme Nacht, wohlig warm und ohne Geschnarche auf der linken Seite, und von wem ich träumte, das erzähle ich diesmal nicht. Um sieben weckte mich die Turmuhr, da war der Langhaarige schon verschwunden. Ich ging zum Fenster, und als ich die Läden öffnete, traf mich ein Lichtschein, so grell, dass ich für einen Moment die Augen schloss. Und dann sah ich eine Sonne, lieblich, hell und warm, wie ich sie lange nicht gesehen hatte.
Und in ihrem Licht, direkt unter dem Fenster, Bäume mit Mandarinen, Clementinen und Granatäpfeln. - Italien, du Schöne, sei gegrüßt, habe ich dich endlich gefunden!